Bettine und das alte Schloss by Lise Gast

Bettine und das alte Schloss by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-04-21T00:00:00+00:00


* * *

Ich war schon etwa zwanzig oder dreißig Schritte weit, da rief Ulle hinter mir her. Ich erschrak — was ich nur immerzu erschrecke? Früher war ich doch auch nicht so, daß ich bei jedem Anruf zusammenfuhr. Das wurde ja nachgerade zur Hysterie! Ich drehte mich um — Ulle winkte.

„Was ist denn?“

„Komm nochmal zurück!“

Ich drehe nicht gern um. Es gibt einen alten Aberglauben, daß man nicht umdrehen soll, es bringt Unglück. Konnte sie mir nicht nachlaufen und sagen, was los ist?

Das konnte sie wirklich nicht. Sie stand vor der Haustür und hatte auf jedem Arm einen kleinen Jungen; der dritte krallte sich an ihr Hosenbein und verhinderte auch den winzigsten Schritt. Ich sah das ein. Zum Teufel mit allem Aberglauben. Ich drehte also um.

„Was gibt’s denn?“ fragte ich und gab meiner Stimme die sanfteste Tönung, deren sie fähig ist.

„Du hast Post. Oben liegt sie!“ sagte Ulle. „Ich wollte es dir schon vorhin sagen!“

Ich kriege gern Post. Ich schreibe auch gern Briefe, damit ich welche bekomme. Ein Tag ohne Post ist für mich immer etwas mißglückt.

Der Brief war von Robert, zu Hause abgestempelt. Es durchzuckte mich — ich war ja umgedreht, was man nicht soll — Mumm? Etwas Schlimmes von ihr? Hastig riß ich den Umschlag im Gehen auf. Robert schrieb zwar von Mumm, gleich in der ersten Zeile, aber ich sah mit einem einzigen Blick, daß er Gutes schrieb. Nun nahm ich mir Zeit und las, während ich in gemäßigtem Schritt dem Schloß zustrebte:

„Das Muttertier hat sich bereits aus dem Wundbett, das keins war, wieder erhoben und schnürt durch die Geographie. Es wäre somit gar nicht nötig gewesen, daß Robert, der Engel — es gibt auch Robert, den Teufel, ich hoffe, Du weißt das aus dem Geschichtsunterricht — hier erschienen wäre, um die Wirtschaft der Frauen in erfahrene männliche Hände zu nehmen. Er tat es trotzdem und ich hoffe, man rechnet es ihm am Jüngsten Tage hoch an. Er hat bereits — bitte zu notieren — zwei nicht funktionierende Schalter repariert, den Ablauf im Bad, der nur noch einer Sickergrube glich, zu einem stürzenden Wasserfall gemacht, zehn Fenster samt Rahmen gestrichen und in der Küche neues Linoleum verlegt. Robert hat des weiteren...“ Es folgte noch mehr. Ich mußte über seinen gespreizten Stil lachen. Wir schreiben uns, falls wir uns überhaupt schreiben, meist auf diese Art und Weise und versuchen, einander in Blödelei zu überbieten. Aber mein Lachen kam nicht recht von Herzen. Jedenfalls merkte ich, daß ich mir Mühe gab, den Brief komisch zu finden und ihn nicht von vornherein komisch fand. Vielleicht war er schwächer als frühere, die ich als sehr ulkig in Erinnerung hatte, vielleicht aber lag es auch an meiner Antenne. Wahrscheinlich sogar.

Ich versuchte, mir Robert vorzustellen, diesen Menschen, der mir doch jahrelang sehr wichtig und nahe gewesen war, mir sein Gesicht zu vergegenwärtigen. Ich mache das dann immer so, als schriebe ich einen Aufsatz darüber. Eine nicht breite, etwas gewölbte Stirn, ziemlich tief eingeschwungene Schläfen. Brille. Die Nase scharf, nicht ganz symmetrisch, schmal. Dunkle Augen. Er ist der einzige von uns, der dunkle Augen hat.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.